Gilbert & George im Museum Küppersmühle

24.03.2013 | Kultur

„London Pictures“ – das ist der Titel des jüngsten Werkzyklus’ der britischen Künstler Gilbert & George, dem ab dem 20. März 2013 die gleichnamige Ausstellung im MKM Museum Küppersmühle in Duisburg gewidmet ist und der erstmals in diesem großen Zusammenhang präsentiert wird. Rund 70 „London Pictures“ bieten dem Besucher die Möglichkeit der intensiven Auseinandersetzung mit diesem neuen Abschnitt aus dem OEuvre von Gilbert & George.

Über die Verarbeitung zahlloser Top-Schlagzeilen aus der Werbepraxis der englischen Zeitungsverkäufer nehmen die Künstler darin eine tiefgreifende Bestandsaufnahme alltäglicher menschlicher Themen vor, unterziehen diese ihrem gewohnt humanistischen, von Gefühl und Empathie geprägten Blick und lassen mit den Mitteln ihrer Kunst einen wahren Bildepos entstehen. Werktitel wie „BEATEN TO DEATH“, „CUTE KIDS“, „DOG“, „GRANDDAD“, „KNIFE MURDER“, „MONEY LAST“ oder „SCHOOL STRAIGHT“, um nur einige wenige zu nennen, lassen auf das breit gefächerte Themenspektrum schließen. Vom Wettbewerb um das niedlichste Kind bis zu Mord und Totschlag ist alles dabei, was auch hierzulande die Menschen anzieht: Die “London Pictures“ und „London Problems“, so die Künstler, sind ebenso gut “Duisburg Pictures“ und „Duisburg Problems”. Mit insgesamt 292 Einzelarbeiten handelt es sich um die bislang umfangreichste Gruppe von Bildern der britischen Künstler, anhand derer sie nicht nur „Pracht, Geheimnis und Drama“ ihrer Heimatstadt London auf den Grund gehen, sondern uns darüber hinaus Auskunft über ihre Sicht auf die psychisch-soziale Beschaffenheit unserer modernen westlichen Gesellschaften geben.

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Gestohlen, gesammelt, gesichtet, gegliedert

Ausgangspunkt und Inspiration für das künstlerische Werk von Gilbert & George ist seit vielen Jahrzehnten die Stadt London, wo sie sich 1967 trafen und seit dieser Zeit ihre Kunst gemeinsam erschaffen – untrennbar als ein Künstler. In nächster Nähe finden sie all ihre kosmopolitischen Motive und Themen. Dies gilt auch für den nun im MKM ausgestellten Werkzyklus, der seine Herkunft schon im Namen trägt: „Die Themen sind aus London und aus aller Welt“ (Gilbert & George im Interview mit Michael Bracewell, Katalog). In ihren „London Pictures“ versammeln die Künstler die Botschaften der so genannten Zeitungs- oder Händlerschürzen, die in ganz England, nicht nur in London, aber auch in Deutschland und anderen Ländern, die Verkaufsstände der Zeitungshändler umranden und potentielle Käufer mit Hinweis auf die aufregendsten, brutalsten und extremsten Storys des Tages locken sollen. Geworben wird mit reißerisch aufgemachten Schlagzeilen über Liebe und Sex, Gewalt und Tod, Geld und Macht – mit Themen also, die die Menschheit von Beginn an faszinieren und unsere Lust an Sensationen, Katastrophen und Exzessen offenbaren. Gilbert & George haben über sechs Jahre hinweg 3712 dieser Werbeplakate zusammengetragen, d.h. entweder mitgenommen oder gestohlen, das ganze Material gesichtet, alphabetisch, thematisch und nach Häufigkeit sortiert und zu 292 präzise gestalteten Bildern verarbeitet. Thema, Titel und Größe der einzelnen Arbeiten entstanden laut Aussage der Künstler durch diese Vorgehensweise quasi automatisch, „wie von selbst“, und bestimmten auch den epischen Charakter des Werkzyklus‘. „Dabei wollen Gilbert & George auf den bewussten Akt des »Kunstschaffens« verzichten und stattdessen die Realität so festhalten, wie sie von den Printmedien Londons dargestellt wird – eine Realität, die schon immer das Grundmotiv ihrer Arbeit war: die alltägliche Explosivität der zeitgenössischen Gesellschaft. Wie schroff und verkürzt seine Schlagzeilen auch sein mögen, hinter jedem Plakat liegen die Wahrheit und der authentische Realismus einer menschlichen Situation, ihre Auswirkungen und Folgen“ (Michael Bracewell).

Dementsprechend dokumentieren die Künstler eben nicht nur eine weit verbreitete Besonderheit in der Marketingstrategie der Presse. Vielmehr setzen sie sich mit deren Gehalt und Auswirkung auf Individuum und Gesellschaft auseinander und formulieren mit den Mitteln der Kunst ihre Antwort und Sicht auf dieses soziale Phänomen. „Die »London Pictures« sind nicht in erster Linie als Medienkritik zu verstehen, sondern eher als Kritik an uns selbst“, erläutert MKM-Direktor Walter Smerling und führt weiter aus: „Gilbert & George greifen die Sprache der Medien auf, setzen sie in einen anderen Kontext und verwandeln dadurch die so genannten Händlerschürzen in eine neue Form mit gänzlich neuem Inhalt. Durch die Ansammlung und sorgfältige Anordnung hunderter von Schlagzeilen (…) wird eine Reflexionsebene geschaffen, die uns konzentriert Einblicke gibt in unsere eigenen Verwicklungen, Machenschaften und Problemzonen.“

Natürlich treten die Künstler auch selbst in ihren Bildern auf. Sie sind im Hintergrund als kritischfragende Augenpaare oder auch in ihren charakteristischen, makellosen Anzügen allgegenwärtig und wirken „(…) als ob die Künstler psychische Manifestationen der Stadt selbst, der Bedeutung des Ortes und seiner Geschichte wären. (…) und sind damit gleichzeitig das moralische Porträt der Stadt: eine unerschrockene Bilanz des Verhältnisses der modernen westlichen Gesellschaft zu sich selbst, entblößt von jeglicher rhetorischer und intellektueller Verkleidung.“ (Michael Bracewell). Über die Stadt London als Ort hinaus machen sich Gilbert & George also direkt selbst zum Bestandteil der Medien- und Seelenlandschaft unserer Gesellschaft. Ihre Blicke hinterfragen dabei nicht nur die Botschaften der Werbeplakate und die menschlichen Dimensionen dahinter. Parallel dazu richten sie sich auf den Betrachter, der damit ebenfalls essentieller Teil jeder einzelnen Arbeit wird. Die Worte „IT’S WRITTEN ALL OVER THEM“, die jedes Bild in der Signatur rechts unten trägt, unterstreichen dies und gelten für die Künstler wie für den Betrachter und jedes Mitglied der westlichen Welt gleichermaßen.

Gilbert & George sind während der Jahrzehnte tief in das Herz ihrer Heimatstadt eingedrungen. Über die „London Pictures“ lassen sie die Stadt, deren Stimmung und das Leben darin für sich selbst sprechen und decken gleichzeitig das menschliche Dasein als Ganzes in all seinen schönen, seinen unerklärlichen, seinen erschreckenden und elenden Facetten auf.

Gilbert & George

„Kunst für alle” ist die Überzeugung, für die die Kunst von Gilbert & George steht. Die Künstler nehmen seit Ende der 1960er Jahre in der zeitgenössischen Kunstszene eine einzigartige Position ein und haben ein breit gefächertes künstlerisches Werk geschaffen, das ihnen internationale Anerkennung einbringt. Gilbert wird 1943 in St. Martin in Thurn, Italien geboren, George 1942 in Devon, Großbritannien. Gilbert studiert zunächst an der Kunstschule Wolkenstein in Südtirol, der Kunstschule Hallein in Österreich sowie an der Münchner Akademie der Bildenden Künste, bevor er die St. Martin’s School of Art in London besucht. Dort lernt er 1967 George kennen, der zuvor am Dartington Hall College of Art und der Oxford Art School Student ist. Seit dieser Zeit leben und erschaffen sie ihre Kunst gemeinsam in London – untrennbar als ein Künstler. Bekannt werden Gilbert & George wenig später, als sie den Skulpturenbegriff erweitern, indem sie sich selbst als »Living Sculpture« zum Material ihrer Kunstwerke machen. Sie erklären alltägliche Aktivitäten zur Kunst und provozieren mit Kot, Urin und Sperma als Hauptmotive ihrer Bilderserien. Die Künstler erhalten 1986 den Turner Prize, bespielen 2005 den britischen Pavillon auf der Biennale in Venedig und zeigen Einzelschauen vom Stedelijk Museum in Amsterdam (1971 und 1996), über das Guggenheim Museum, New York (1985), das Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris (1997) bis zur Londoner Tate Modern (2007). Weitere große Ausstellungen waren 1990 in Russland und 1993 in China zu sehen.

LONDON PICTURES von GILBERT & GEORGE
im MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg
Laufzeit: 20. März bis 30. Juni 2013